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Valery Gergiev
Valery Gergiev

Aus der Seele

02.05.2003

Zu Beginn der neunziger Jahre sah es nicht gut aus um die russische Kultur. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen System blieben auch die Förderungen aus, die allen ideologischen Auseinandersetzungen zum Trotz vor allem repräsentative russische Traditionen subventionierten. Zum Glück gab es da Menschen wie den Dirigenten Valery Gergiev, dem es als Chef des Petersburger Marientheaters gelang, das Banner der Kultur seiner Heimat hochzuhalten. Was dabei alles hätte verloren gehen können, zeigt nun die CD “White Nights”, eine Zusammenstellung russischer Klassiker und Modernisten unter Gergievs Ägide.

Als Valery Gergiev vor einem halben Jahrhundert am 5.Mai 1953 geboren wurde, herrschte der kalte Krieg. Für die meisten Menschen war die ideologische Auseinandersetzung zwischen den beiden Großmächten eine immense Belastung. Einer der wenigen Vorteile war lediglich, dass sich die Systeme im Wettstreit um die vorderen Ränge der globalen Beachtung auch repräsentative Bereiche leisteten, die den Wert der eigenen Idee dokumentieren sollten. In der UdSSR wurde daher – sehr selektiv, aber immerhin – eine künstlerische Elite herangezogen, die mit staatlichen Mitteln gefördert wurde.

 

Valery Gergiev hatte das Glück, als begabter Student zu gelten. Er begann seine Ausbildung in Ordschonikidse als Pianist, wechselte bald zur Orchesterleitung und ging an das Konservatorium nach Leningrad zu Ilja Mussin. Im Jahr 1975 gewann er den Dirigenten-Wettbewerb der Sowjet-Republiken, durfte daraufhin im folgenden Jahr am Karajan-Wettbewerb in Berlin teilnehmen, den er ebenfalls erfolgreich absolvierte. Daraufhin wurde seine künstlerische Lebensplanung ein wenig leichter. Er ging zunächst als Assistent von Jurij Temirkanov an das Kirov-Theater, leitete 1981–85 das armenische Staatsorchester und wurde 1988 schließlich zum Musikdirektor des Kirov-Theaters (heute Marientheater) ernannt. Seit Mitte der Achtziger bewährte er sich auch als Gastdirigent internationaler Ensembles und entwickelte sich zu einem der führenden Orchesterleiter der Szene weit über die Landesgrenzen seiner Heimat hinaus.

 

Heute ist Gergiev ein Star, umjubelt in seiner Heimat, weil er es als geschickter Stratege und außergewöhnlicher Künstler schaffte, nicht nur die russische Konzertsaalkultur erfolgreich zu pflegen, sondern sie darüber hinaus auch mit Verve und Energie in der ganzen Welt zu popularisieren. Zu seinen zahlreichen Aufgaben als Leiter des Marientheaters, Hausdirigent der Metropolitan Opera, Chefdirigent der Rotterdamer Philharmoniker und Festivalgründer gesellen sich seit 1989 zahlreiche Aufnahmen für das Label Philips. Allein während des ersten Jahrzehnts entstanden über 40 CDs und so kann Gergiev anlässlich seines 50.Geburtstags stolz eine nahezu konkurrenzlose Zwischenbilanz ziehen.

 

Sein Erfolg steigt ihm jedoch nicht zu Kopf. Im Gegenteil: Je mehr er international unterstützt wird, desto intensiver kann er sich um seine Mission, den Erhalt und die Pflege der russischen Kultur kümmern. “White Nights” zeigt dabei auf zwei CDs, wie weit das Spektrum seines Engagements reicht. Die über mehr als ein Jahrzehnt hinweg entstandenen Aufnahmen vereinen nicht nur Spitzenensembles wie die Wiener Philharmoniker, die Rotterdam Philharmonic und das Kirov Orchestra unter einem Signum, sondern präsentieren Gergiev auch als leidenschaftlichen Energetiker mit darstellerischer Wucht, der von Tschaikowsky über Prokofiew, Borodin, Moussorgsky bis Rachmaninoff und Strawinsky die Seele der russischen Musik zu ergründen vermag. Denn seine Heimat trägt er im Herzen, wo immer er auch ans Pult tritt. Und das ist gut so.

 

DIRIGENT VALERY GERGIEV ÜBER SEINE ZWEI NEUEN AUFNAHMEN MIT PHILIPS CLASSICS:

 

PROKOFIEV “ALEXANDER NEWSKY” UND SCHOSTAKOWITSCH SYMPHONIE NR. 7, “LENINGRAD”

 

iclassics: Ihre neuen Aufnahmen von Prokofiev und Schostakowitsch sind Teil einer umfassenden Serie neuer Aufnahmen russischer Werke mit Philips Classics, die sowohl die klassischen Meisterwerke als auch weniger bekannte Operetten- und Orchesterstücke umfasst. Wie weit ist die Zuhörerschaft in ihrem Verständnis dieser beiden Giganten der russischen Musik?

 

Valery Gergiev: Kein Zweifel, Prokofiev and Schostakowitsch werden in den Konzertsälen weltweit als große Erfolge gefeiert. Ich glaube aber, dass das heutige Publikum viel emotionaler auf die Werke der beiden Komponisten reagiert.

 

IC: Fangen wir mit Prokofiev an: Was fasziniert Sie so an seiner Musik?

 

VG: Prokofievs Musik ist enorm phantasiereich. Er ist außerdem sehr theatralisch und filmisch – man sieht Bilder, wann immer man seine Musik hört, nicht nur bei einer Filmmusik wie Newsky.

 

Wir waren gesegnet in unserem Land, wo so ein Duo wie Eisenstein und Prokofiev zusammengearbeitet hat. Aber Prokofiev hat auch großartige Musik für die Oper geschrieben, für das Ballet, Symphonien, Konzerte und für den Film. Einige seiner Arbeiten haben zwar noch immer nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient haben, aber Newsky musste dieses Schicksal nie teilen: Es ist eine tonale Überschall-Erfahrung die auch in einer Aufnahme sehr gut fassbar wird.

 

IC: Ihre Newsky-Aufnahme entstand letztes Jahr während des ersten Moskauer Oster-Festivals.

 

VG: Wie meine anderen Aufnahmen ist auch das Newsky-Projekt mit einer Live-Performance verbunden – eine sehr wichtige Aufnahme für mich, weil es die Eröffnung dieses großen neuen Festivals war, das wir in Moskau gestartet haben. Das Moskauer Oster-Festival reflektiert, wie auch unser “Weiße Nächte”-Festival in St. Petersburg, ein neues, wieder erstarktes Vertrauen in das musikalische Leben – besonders, wenn man über Moskau und St. Petersburg spricht, die ja eine lange und wesentliche Geschichte der klassischen Musik und der Welt der Kultur gehabt haben.

 

Schon vor langer Zeit wollte ich ein großes Festival nach Moskau bringen, dass ein ganz bestimmtes Zeichen zu denjenigen Menschen senden sollte, die nicht jeden Tag in die Konzertsäle gehen – diejenigen, die nicht zu dieser Elite gehören. Wir wollten neue Zuhörer die Kraft der klassischen Musik entdecken lassen – junge Menschen oder diejenigen, die sich das Privileg nicht leisten können, klassische Musik zu hören.

 

IC: Sie blicken auf eine lange und enge Zusammenarbeit mit sowohl dem Kirow Orchester als auch mit den Rotterdam Philharmonikern. Bei Ihrer neuen Aufnahme von Schostakowitsch' Symphonie No. 7 sind beide zu hören. Die Aufnahme entstand unter außergewöhnlichen Umständen.

 

VG: Als die Tragödie vom 11. September geschah, war ich gerade in Los Angeles und gab Tschaikowskys Pique Dame. Der Schock für die Welt war so groß und wir alle werden nie die tragischen Farben dieser Tage vergessen.

 

Ich sollte in Rotterdam zur Eröffnung eines neuen Festivals dirigieren. Ich brauchte dreieinhalb Tage von Los Angeles nach Rotterdam – mit dem Auto nach Tijuana, ein Flug nach Mexiko Stadt, von dort ein Flug in die Niederlande – wo ich ja Schostakowitsch' 7. Symphonie geben sollte, gespielt von zwei Orchestern gleichzeitig – den Rotterdam Philharmonikern und dem Mariinsky Orchester – und alle auf derselben Bühne. Wir alle wissen, was für ein gigantisches Werk Schostakowitsch' 7. Symphonie ist: Es spielen vielleicht zehn Hörner und mindestens sechs Posaunen und sechs Trompeten. Das ist eigentlich grenzenlos.

 

Dieses Werk in dieser Stadt und mit diesen beiden Orchestern aufzuführen, war sehr angemessen. Rotterdam ist während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen stark bombardiert worden und der Sieg von St. Petersburg – oder besser Leningrad, wie es damals hieß – nach 900 Tagen Belagerung, sind Grund dafür, dass diese Symphonie mit dieser Stadt so eng verbunden ist, fast als wäre die Stadt selbst die Heldin.

 

Ein tragischer Zufall, dass sich der 11. September 60 Jahre nach der Bombardierung dieser beiden Städte im Zweiten Weltkrieg ereignet und wir hier genau dieses Werk mit diesen beiden Orchestern spielen. Natürlich waren Geist und Seele dieses Konzertes sehr, sehr stark von all dem beeinflusst, was wir in diesen Tagen alle gefühlt haben, die Stimmung, die praktisch jeder in der ganzen Welt damals fühlten. Auf jeden Fall hat diese Symphonie, die den Zweiten Weltkrieg dokumentiert, eine spezielle Bedeutung bei unserer Hoffnung, dass trotz dieser sehr beunruhigenden Zeiten ein Dritter Weltkrieg verhindert werden kann.

 

Diese Live-Aufnahme ist ein Zeitdokument und sehr intensiv mit dem verbunden, was wir in diesen unvergesslichen Tagen erlebt haben.

 

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Dieser Ausschnitt wurde mit freundlicher Genehmigung von iClassics.com abgedruckt. Das vollständige Interview lesen Sie hier.

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