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Helmut Walcha
Helmut Walcha

Der Bach-Pionier

13.02.2004

Manchmal haben technische Neuerungen auch unerwartete Tücken. Als um 1950 die Langspielplatte eingeführt wurde und mit einem Mal Musik wesentlich rauschärmer als auf Schellack zu hören war, musste sich Helmut Walcha eine neue Orgel für seine Bach-Interpretationen suchen. Denn ohne das Knistern des Grammophons im Hintergrund konnte man plötzlich die Autos hören, die während der Aufnahmen an der Lübecker Jakobi-Kirche vorbei knatterten.

Helmut Walcha war besessen davon, seinem musikalischen Idol Johann Sebastian Bach die größtmögliche Perfektion angedeihen zu lassen. Das führte zwischen 1947 und 1952 dazu, dass er alle greifbaren und eindeutig zuzuordnenden Orgel-Kompositionen den Meister für die Archiv Produktion der Deutschen Grammophon festhielt. Doch kaum hatte er die Einspielungen fertiggestellt, warteten die Techniker mit einer neuen Sensation auf. Die Markteinführung der Stereo-Aufnahme Mitte der Fünfziger revolutionierte den Musikmarkt mindestens ebenso nachhaltig wie wenige Jahre zuvor die Umstellung von der Schellack mit nur ca. 5 Minuten auf die Langspielplatte mit rund 20 Minuten Laufzeit pro Seite. Walcha wiederum sah das als eine Chance, bestimmte Details zu verbessern und machte sich von 1956 an noch einmal an die Gesamteinspielung des Bachschen Orgelwerks, diesmal in Zweikanalton und mit Orgeln, die im Vergleich zu den beiden historischen Vorgängern noch brillanter, “stereophoner” waren. Damit aber wurde er sich selbst zum stärksten Konkurrenten. Denn seit den Mono-Variante galt der Organist aus Leipzig als führende Autorität in Sachen korrekter Bachinterpretation. Seine ursprünglichen Aufnahmen verschwanden aus den Läden, in den Ohren der schnell wachsenden Hifi-Gemeinde als “historisches Dokument” gebrandmarkt, abgelegt unter “Pioniertaten der Tonträgergeschichte”.

 

Doch das wiederum tat den Aufnahmen Unrecht. Denn Walchas ursprüngliche Versionen zeugen wegen ihrer Texttreue und rhythmisch-gestalterischer Disziplin von enormer Präsenz und gedanklicher Klarheit. Gespielt wurden sie auf zwei historisch möglichst korrekten Instrumenten, zunächst der Orgel der Lübecker St. Nikolai-Kirche mit gotischem Hauptwerk von 1467/1515 und zusätzlichem Rückpositiv, Brustwerk und Pedal von 1636/37, das Friedrich Stellwagen konstruiert hatte (und das 1935 noch einmal von Hugo Distler modifiziert worden war). Die zweiten Aufnahmeblöcke vom Juni 1950 und September 1952 entstanden auf der Barockorgel von Arp Schnitger, die über Umwege der französischen Besatzung Hamburgs 1816 an die Ortschaft Cappel am Wattenmeer verkauft wurde, wo sie in der St. Peter und Paul Kirche ihren neuen Platz fand. So war die klangliche Authentizität gewährleistet, die Walcha an die Instrumente stellte.

 

Er selbst hatte diese Ansprüche während seines ungewöhnlichen Lebensweges schrittweise entwickelt. Geboren 1907 in Leipzig als Sohn eines Postbeamten geboren, traf ihn das Schicksal hart, als er im Alter von 16 Jahren erblindete. Musikalisch begabt, konnte er als Schüler Günther Ramins jedoch auf sich aufmerksam machen, wirkte von 1926–29 als dessen Stellvertreter an der Thomaskirche. Danach zog er nach Frankfurt, arbeitete als Organist zunächst an der Friedenskirche, dann von 1946 an der Dreikönigskirche. 1938 wurde er zum Professor für Orgel an der Frankfurter Musikhochschule ernannt, gleich nach dem zweiten Weltkrieg gründet er das Institut für Kirchenmusik. Durch seine beiden Orgelzyklen – die zweite Aufnahmerunde beendet er 1971 – etabliert er sich als Bachspezialist, gab aber auch zahlreiche Werke von Händel neu heraus und forschte umfassend sowohl über Max Reger wie über die Vor-Bachzeit.

 

Ein Mann der Theorie und Praxis also, einer, der sich ständig an den Vorgaben der Historie maß. Schon deshalb ist die erste Gesamtausgabe der frühen Bacheinspielungen Walchas auf CD mehr als nur ein Fanartikel. Mit den Kompositionen BWV 525–771, BWV 1090–95 und BWV 1097–1121 hat er Forschung transparent gemacht und mit strenger Konsequenz eine Darstellungstradition geprägt, die bis heute maßgebend ist. Walcha, der “Fanatiker des Staccato, Portato, Leggiero” (Wolfgang Stockmeier), hat Zeichen gesetzt. Mit der Original Masters Edition “Bach: Organ Works – The 1947–52 Recordings” sind nun die Grundlagenarbeiten der Rezeptionsgeschichte wieder zugänglich.

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