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Paul McCreesh
Paul McCreesh

Abgespeckt

28.03.2003

Vieles darf man ändern. Chöre nicht. Zumindest scheint es so, wenn man die Reaktionen der Musikwissenschaftler betrachtet, die sich mit den Thesen von Joshua Rifkin und Andrew Parrott beschäftigen. Denn die beiden Bach-Spezialisten stellen aufgrund ausführlicher Forschungen die monumentale Chöre bei Bach-Aufführungen in Frage. Für den Dirigenten Paul McCreesh jedenfalls waren die Argumente einleuchtend. Deshalb wagte er sich an eine neue Aufnahme der “Matthäus Passion” mit kleinem, solistisch besetztem Chor. Und mit überraschenden Ergebnissen.

“Bach spricht ganz offen über seine Sänger. Er sagt, dass ihm normalerweise vier gute Stimmen zur Verfügung stehen, die auch komplexere Stücke von ihm singen können; weitere vier sind ein bisschen ungeschickt, aber für gewöhnlich brauchbar, und dann gibt es noch einige, die mit etwas Glück gerade eben einen Choral bewältigen. Die Annahme, er habe regelmäßig mit sechzehn Vokalvirtuosen all seine anspruchsvollsten Stücke aufführen können, geht über das dokumentarisch Belegbare weit hinaus. Aber es dreht sich ja nicht allein um die Sänger. Für die ýMatthäus-Passion' musste er auch noch ein Ensemble von mindestens 24 versierten Instrumentalisten zusammenstellen. Da Bachs Sänger in der Regel auch gute Instrumentalisten waren, dürfte er größte Schwierigkeiten gehabt haben, die Besetzung seiner Passion mit einem großen vokalen oder instrumentalem Ripieno-Ensemble zu verwirklichen. Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass Bach, das Genie, bei seiner Arbeit die Nachwelt vor Augen hatte, und endlich begreifen, dass Bach letztendlich auch die Verantwortung für den Musikunterricht einer Schule trug”. Paul McCreesh zieht daher aus den Erkenntnissen der Forschung naheliegende, aber in der Aufführungspraxis unübliche Konsequenzen. Die im April vergangenen Jahres in der Kathedrale von Roskilde gemeinsam mit den Gabrieli Players und Solisten wie Deborah York, Magdalena Kozena, Mark Padmore und Peter Hervey verwirklichte Aufnahme der “Matthäus-Passion” verzichtet auf die gigantischen Chöre und setzt auf eine mit acht hervorragenden Solisten bestückte Kammerversion des Werkes.

 

Die Resultate dieser Entscheidung sind beachtlich. Nicht nur die im liturgischen Kontext wichtige Textverständlichkeit erhöht sich, überhaupt wird der Gesamtklang der Passion durchsichtiger und differenzierter. Damit ist jedoch nicht nur den Sängern geholfen, meint Timothy Roberts: “Von meiner Warte aus betrachtet, also aus der Sicht des Organisten dieser Aufnahme, ist es manchmal schwer zu verstehen, warum so viel Aufhebens um diese Frage [der Chorgröße] gemacht wird. Bei all den Aufführungen des Stücks an einer Vielzahl von Spielorten, mit einer ausgezeichneten Solistenriege und in wohlüberlegter Aufstellung kam das oft beschworene Problem der klanglichen Unausgewogenheit überhaupt nicht auf. Im Gegenteil: Endlich einmal konnte man Bachs brillanten Holzbläsersatz, der von großen Chören oft überdeckt wird, überhaupt hören. Vor allem trat der Text, der eigentliche Kern der lutherischen Musik, mit eindringlicher Klarheit und Lebendigkeit zutage”.

 

So hat die Neuinterpretation der “Matthäus-Passion” durch Paul McCreesh und sein Ensemble das Zeug, eine ähnlich nachhaltige Wirkung auf die Alte Musik Szene auszuüben wie Harnoncourts legendäre Aufnahme vor drei Jahrzehnten, die mit der Verwendung von Originalinstrumenten das Klangverständnis des Werkes veränderte. Schließlich geht es um die Weiterentwicklung der Vorstellung einer Zeit, von der man zwar viel, aber noch lange nicht alles weiß. Oder mit den Worten von McCreesh: “Zweck der Übung ist nicht, eine wissenschaftliche Theorie zu beweisen, sondern den Leuten die Ohren zu öffnen für die fantastischen Möglichkeiten, die diese Art der Aufführung von Bachs Musik eröffnet. Und wenn andere den Fehdehandschuh aufnehmen – umso besser!”

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