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John Eliot Gardiner

Tempi für Dickie: Verdis Falstaff mit Sir John Eliot Gardiner

30.05.2001

Ein kissengestopfter Falstaff im Waschkorb ist die große Lachnummer des Opernspielplans. Sir John Eliot Gardiner spielte “Falstaff” auf CD ein und ersparte sich und allen CD-Hörern die peinliche Kostümfrage.

“Nachdem Sie alle Wehklagen des menschlichen Herzens zum Ausdruck gebracht haben, treten Sie mit einem gewaltigen Gelächter ab!”, verlangte Verdis Librettist Arrigo Boito von dem 76-jährigen Komponisten. Am nächsten Tag antwortete Verdi: “Amen, so sei es; dann machen wir eben diesen Falstaff!”, als wäre der Apfel ziemlich sauer, den ihm Boito hinhielt. Dabei hatte Verdi seit Jahrzehnten mit dem Gedanken gespielt, Shakespeares “Falstaff und die lustigen Weiber” zu vertonen. Boito, schon lange mit Verdi befreundet, ahnte zweifellos das komödiantische Talent hinter dem Verdi der großen Tragödienstoffe, wusste, dass Hamlet immer auch danach verlangt, den Clown zu spielen.

 

Sir John Eliot Gardiner hat Verdis quirliges Alterswerk, diese erstaunliche Opernkomödie ohne eine echte Arie, in einer Starbesetzung eingespielt und leistet damit seinen furiosen Beitrag zum Verdi-Jahr. Als die Oper 1998 bei den BBC Proms erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, sprach man von “musikalisch zart, aristokratisch” (Financial Times), von einem “unvergesslichen Abend” und “selten so ausgefeilten Feinheiten der Partitur” und “klar artikulierten Worten und Farbnuancen” (Daily Express). John Eliot Gardiner erarbeitete sich die Oper, wie Gardiner das eben macht: mit Haut und Haar, mit originalen Verdi-Handschriften und historischen Instrumenten, mit Shakespeare-Vergleichen und Aufnahmen von Toscaninis Falstaff-Proben. “Es ist zwar ein altes Klischee, aber ‘Falstaff’ ist ein Wunder”, sagt Gardiner in einem ausführlichen Interview zu seiner Falstaff-Einstudierung.

 

“Verdi reservierte sich seine raffiniertesten und ausgefallensten Einfälle für seine allerletzte Oper in seinem 80. Jahr. Man hört vom Orchester nicht zwei langweilige Takte.” Für die Aufnahme entschied sich John Eliot Gardiner wie schon bei seinen früheren Einspielungen des Requiems und der “Quattro pezzi sacre” ausschließlich für historische Instrumente aus der Zeit Verdis oder entsprechenden Nachbauten. Größtenteils stammen sie aus französischen Werkstätten, denn Paris war das Mekka des Holzbläserbaus im 19. Jahrhundert. “Mit diesen Instrumenten erreichten wir ganz besondere Farbschattierungen. Zum Beispiel beim Englischhorn und der Bassklarinette, die Verdi für den dritten Akt und die ganze Feen-Szene vorbehielt. Diese historische Bassklarinette hat ein Timbre, das viel hohler klingt, als wir das heute gewohnt sind, und betont dadurch so schön den Gegensatz zum Englischhorn.”

 

Spart somit Gardiner schon nicht mit Herausforderungen für die Musiker – denn alte Instrumente sind weitaus weniger zuverlässig als die modernen Varianten -, so ist Verdi erst recht erbarmungslos mit den Solisten und Instrumentalisten. Sein “Falstaff” fordert von jedem einzelnen Sänger – u.a. Jean-Philippe Lafont als Falstaff und dem Damenquartett Martinpelto, James, Mingardo und Evans – wie Orchestermusikern höchste Virtuosität. Extrem schnelle Stellen für die Streicher, viele schwierige Läufe für die Holz- und Blechbläser, besonders anspruchsvoll aber beim Horn. “Die Märchenmusik im 3. Akt”, sagt Gardiner, “ist von einer durchsichtigen Eleganz, wie nur Mendelssohn oder Berlioz sie erreichten.” Hinzu kommt Verdis Dynamik, die das Äußerste verlangt.

 

Gardiner: “Im einen Augenblick ohrenbetäubendes Fortissimo – mit dem Gefühl, als könnte das ganze Orchester explodieren, wenn es soll; ein sagenhaft starker Effekt, so als würde Leinwand zerreißen. Im nächsten Augenblick die leisesten, delikatesten Töne, wie hingeatmet. Wir haben diese Kontraste voll zu ihrem Recht kommen lassen – ohne künstliche Nachbearbeitung oder technische Distanzierung.” Jede der sechs Szenen wurde in einem Rutsch aufgenommen, mit wenigen kleinen Korrekturen. Schnelle Tempi waren angesagt. Gardiner übernahm Verdis eigene, extrem schnelle Metronom-Angaben und steigerte sie noch an einzelnen Stellen, denn Verdi, so Gardiner, hatte klare Vorstellungen vom Klima der einzelnen Szenen, und legte folgerichtig das Aufführungstempo genau fest: “Miss Quickly soll ihre Erzählung im 2. Akt ‘so schnell wie möglich in mezza voce singen’, schreibt Verdi, ‘in einem einzigen Atemzug, mit überdeutlicher, präziser Artikulation’. Für die 1. Szene im 1. Akt schrieb er vierzehn Minuten vor, die 2. Szene soll in exakt vierzehneinhalb Minuten über die Bühne gehen.”

 

Wenn Verdi zum musikalischen Nutzen Druck macht – Sir John Eliot kann ihm das Wasser reichen. Dass dabei aber so entspannt, präzise und inspiriert musiziert wird, das ist das eigentliche kleine Gardiner-Wunder.

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