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Daniel Hope: 'Music for a New Century' - Ein Gespräch mit dem Künstler

Daniel Hope - Music for a New Century
Cover Photo ©Shutterstock
28.04.2023

Das New Century Chamber Orchestra, seit seiner Gründung 1992 in der Bay Area von San Francisco ansässig, feiert in dieser Saison sein 30-jähriges Bestehen. Das Ensemble zählt zu einer Handvoll von Kammerorchestern, die ohne Dirigenten oder Dirigentin arbeiten. Der Geist der Zusammenarbeit prägt seine musikalischen Entscheidungen und ein hohes Engagement jedes Einzelnen. Bekannt ist New Century nicht nur für meisterhafte Darbietungen von klassischem und ausgewähltem Kammerorchesterrepertoire, darunter seltene Preziosen, sondern ebenso von Werken des Jazz, des Rocks und der neuen Musik. Gerade im Bereich der neuen Musik hat es zahlreiche Kompositionen in Auftrag gegeben und erstmals auf die Bühne gebracht.

Unter der Leitung von Daniel Hope schärfte sich dieser Fokus. Bereits in der Saison 2017/18 arbeitete er mit dem Orchester zusammen. Zu Beginn der Saison 2018/19 wurde er zu seinem künstlerischen Leiter ernannt. Können, Innovation und die Bereitschaft zum kreativen Experiment zeichnen die gemeinsamen Aufführungen und Projekte aus.

Ein solches Projekt ist auch Music for a New Century, die Aufnahme entstand im Rahmen des Jubiläums und erscheint bei Deutsche Grammophon. Vier zeitgenössische Kompositionen, eigens vom New Century Chamber Orchestra beauftragt oder mitbeauftragt, wurden in der Bing Concert Hall der Stanford University eingespielt.

Das 2017 uraufgeführte Dritte Klavierkonzert von Philip Glass hat das Ensemble bereits 2018 an der US-amerikanischen Westküste erstaufgeführt, die drei anderen Werke sind Weltersteinspielungen: Lament für Solovioline und Streicher von Mark-Anthony Turnage, das Doppelkonzert für Violine, Klavier und Streicher von Tan Dun und eine brandneue Jubiläumskomposition von Jake Heggie. Solist am Klavier ist der ukrainische Pianist Alexey Botvinov. Die beredten Werke umspannen eine bemerkenswerte Bandbreite musikalischer Ideen und Stile; gemeinsam illustrieren sie das Engagement von New Century für die zeitgenössische klassische Musik.

 

Dirigentenlose Orchester sind selten. Beispiele finden sich im Sowjetrussland des letzten Jahrhunderts mit Persimfans, dem ersten selbstverwalteten Klangkörper der Welt, oder später mit dem Prager Kammerorchester, dem Orpheus Chamber Orchestra und der Amsterdam Sinfonietta, um nur einige zu nennen. Das New Century gibt es seit drei Jahrzehnten. Was hat Sie dazu bewogen, mit dem Ensemble zu arbeiten?

Schon bei meiner ersten Begegnung mit den Mitgliedern des Ensembles war ich von ihrer Leidenschaft, aber auch ihrer schieren Freude an der Musik beeindruckt. Es war ihnen ein großes Anliegen, sich von Grund auf noch intensiver als sonst mit einer Partitur auseinanderzusetzen. Darüber hinaus ist ihre Energie auf der Bühne wunderbar inspirierend und bereichernd.

 

Welche Arbeitsmethoden haben Sie etabliert? Was zeichnet Ihre Zusammenarbeit aus?

New Century ist wohl das demokratischste Ensemble, mit dem ich je gearbeitet habe. Alles steht zur Diskussion, und das ist erfrischend. Wir tauschen unsere Ideen aus, erproben extreme Tempi, Artikulationen und Phrasierungen. Und dann kommt irgendwann der Moment, in dem wir uns auf eine Interpretation einigen müssen – auf den einen gemeinsamen Klang. Ich habe viel gelernt, indem ich den Musikern einfach zugehört und mit ihnen gespielt habe. Und ich selbst hatte auch ein paar Überraschungen in petto, würde ich behaupten.

 

Obgleich so selten, spielen dirigentenlose Orchester eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, neue Musik zu fördern. Welchen Stellenwert hatte zeitgenössische Musik für Sie, als Sie das Amt des künstlerischen Leiters übernahmen?

Sie war von grundlegender Bedeutung, und sie ist es bis heute. In den 30 Jahren seines Bestehens hat das New Century eine reiche Tradition geschaffen, indem es Dutzende Werke in Auftrag gegeben hat. Als ich begann, als künstlerischer Leiter mit dem Orchester zu arbeiten, war ich fest entschlossen, genau diesen Geist zu wahren. Mir schwebte vor, auch ein Album zu machen mit Musik, an deren Entstehung das Orchester Anteil hatte.

Die drei Werke, die nun erstmals eingespielt worden sind – Turnage, Heggie und Tan Dun –, standen ganz oben auf meiner Agenda. Das Klavierkonzert von Philip Glass – ein großartiges Stück – wurde in Boston uraufgeführt, etwa zu der Zeit, als ich künstlerischer Leiter des Orchesters wurde. Das New Century spielte es dann im folgenden Jahr erstmals an der Westküste.

Man käme vielleicht nicht so ohne Weiteres auf den Gedanken, diese vier Komponisten zu koppeln. Doch gerade dadurch feiern wir das Orchester in seiner kreativen Auseinandersetzung mit neuer Musik. Mir war es wichtig, dass die Stücke das Wesen der Arbeit von New Century spiegeln. Dass Deutsche Grammophon uns darin unterstützt, ist eine sehr schöne Geste.

 

Jedes dieser Stücke ist in der unverwechselbaren Sprache seines Komponisten geschrieben, doch verbindet sie eine gewisse emotionale Direktheit. Können Sie das erklären?

Einmal abgesehen vom intendierten Wortspiel im Titel des Albums, Music for a New Century, kommt es mir so vor, dass in den letzten zehn Jahren ein deutlicher Wandel in der zeitgenössischen Musik hörbar wird, das ist auch an diesen Kompositionen abzulesen. Viele Komponisten scheinen zum guten alten Konzept der »Melodie« zurückzukehren! Das interessiert mich, und noch mehr, wie bestimmte Komponisten die Melodie neu erfunden oder neu aufgefasst haben, vielleicht, wie sie Melodie in der heutigen Welt definieren. Wir haben hier vier sehr unterschiedliche Komponisten, zwei kommen aus den Vereinigten Staaten, einer aus China und einer aus Großbritannien. Und doch hat jeder von ihnen, auf seine Weise, einen ganz eigenen Zugang zur Melodie.

 

Zwölf nordamerikanische Ensembles haben das Klavierkonzert Nr. 3 von Philip Glass in Auftrag gegeben, New Century zählte zu ihnen. Ihr Freund, der Pianist Alexey Botvinov, ist der Solist der jetzigen Aufnahme. Können Sie uns etwas über die Musik erzählen?

Ich schätze die Musik von Philip Glass schon seit Langem und führe sie häufig auf. Bei Alexey Botvinov ist es genauso, er hat eine echte Affinität zu ihr. Nach unseren gemeinsamen Schnittke- und Silvestrov-Kammermusikalben wollte ich unsere Zusammenarbeit fortsetzen.

Das Konzert ist im Grunde von der »Seele« Bachs inspiriert. Und doch sagt Glass, dass er Bachs Musik nicht bewusst im Kopf hatte, als er es schrieb. Vielmehr manifestiere sich Bachs Einfluss im weiteren Sinn, man könne dem gar nicht entgehen, so Glass. Während seines Studiums bei Nadia Boulanger war Bachs Musik äußerst präsent, auch deshalb gebe es eine gewisse Überschneidung ihrer musikalischen Sphären, so scheint es ihm.

 

Der britische Komponist Mark-Anthony Turnage ist bekannt für seine konfrontativen, unter die Haut gehenden Klänge. Er behauptet von Ihnen, Sie seien ein »Spieler mit Herz«, in Lament sollte genau das zum Ausdruck kommen.

Sowohl die Musik von Mark als auch sein Elan bedeuten mir viel. Wir kennen uns seit Jahren – übrigens sind wir beide für Arsenal London, wenn’s um Fußball geht! Ich hatte in der Vergangenheit ein Konzert für zwei Violinen und Orchester bei ihm in Auftrag gegeben, für Vadim Repin und mich; es heißt Shadow Walker. Und noch zu meinen Zeiten im Beaux Arts Trio hatte Mark ein Klaviertrio für uns geschrieben.

Nach Shadow Walker rief mich Mark an, weil er ein Stück im Kopf hatte, es basierte auf einer bereits existierenden Skizze und sollte orchestriert werden. Lament entstand als Hommage an den Partner seines Verlagsmanagers, es war ein Versuch, dessen Tod zu verarbeiten. Mark schickte mir den ersten Entwurf der Violinstimme. Mir fiel sofort auf, wie lyrisch und expressiv sie war, nicht unbedingt Eigenschaften, die einem als Erstes in den Sinn kommen, wenn man an Marks Musik denkt. Hier war etwas anders: sehr emotional, leidenschaftlich, fast unverblümt gefühlvoll.

Ich bat ihn, Lament so zu komponieren, dass ich es von der Geige aus dirigieren konnte, ich wollte nicht, dass das Kammermusikalische verloren ging. In Marks Partitur ist das clever gelöst. Das Stück ist komplex, hat ein hohes Maß an rhythmischen Details und geht zugleich wunderbar auf als Tongedicht ohne Dirigenten. Es passt darüber hinaus zu New Century, das seit seinen Anfängen vom ersten Pult oder von der Solovioline aus geleitet wird.

Wir konnten Lament in Zusammenarbeit mit Radio France, dem NFM Leopoldinum Orchestra in Breslau und der Amsterdam Sinfonietta in Auftrag geben.

Im Februar 2021 brachte ich es in Paris mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France zur Uraufführung, wegen der Pandemie hinter verschlossenen Türen, doch es wurde im Radio übertragen. New Century und ich gaben einige Monate darauf vor Publikum die US-Premiere. Seither habe ich es oft auf die Bühne gebracht, und immer aufs Neue erstaunt mich, wie sehr die musikalische Sprache von der Vergangenheit beseelt ist und zugleich Marks einzigartig gegenwärtigem Ausdruck entspricht.

Zwar war Mark nicht an Ort und Stelle bei den ersten Proben in Paris, aber er schaltete sich während der Aufnahmesession in San Francisco dazu, beriet uns und machte Vorschläge. Obgleich wir nicht im selben Raum waren, würde ich sagen, dass wir das Stück sehr wohl gemeinsam erarbeitet haben.

 

Die ursprünglichen Pläne für das Doppelkonzert von Tan Dun zerschlugen sich wegen der Pandemie. Schließlich kam das Orchester nach mehr als einem Jahr zum ersten Mal zusammen für eine virtuelle Weltpremiere des Werks in der Bing Concert Hall. Die Partitur unterwandert die herkömmliche dreisätzige Konzertform mit ihren sich fortwährend entwickelnden Kontrastierungen in Tempo und Stimmung, gleichwohl ist die Komposition geradezu ein Renommierstück für sowohl die Solisten als auch die beiden Schlagzeuger. Wie kam es zu diesem Auftrag?

Tan Dun ist ein enger Freund, und ich habe das große Glück, dass ich ihn seit 20 Jahren kenne. Wir haben bei vielen Gelegenheiten zusammengearbeitet. Wunderbarerweise konnte ich auch zwei seiner Violinkonzerte unter seiner Leitung aufführen. In puncto Dynamik und Ideen ist der Austausch mit ihm unvergleichlich. Die Art und Weise, wie er seine Musik hört und sich vorstellt, ist von solcher Klarheit, er hat ein einmaliges Gespür für Rhythmus und Klangfarben. Und uns verbindet, dass wir uns gern von anderen musikalischen Genres inspirieren lassen, ob Folk, Traditional oder selbst Rock. Schon in Tan Duns Nähe zu sein ist spannend.

Ich habe ihn gefragt, ob er ein Stück für New Century schreiben könnte. Weil ich genau weiß, wie beschäftigt er ist, dachte ich, dass wir fünf oder vielleicht zehn Jahre darauf warten würden. Aber eines Abends rief er mich an: Er wolle das unbedingt realisieren. Er schlug vor, ein Tripelkonzert, das er für großes Orchester geschrieben hatte, wieder aufzugreifen und eine neue, lebhafte Fassung zu komponieren. Es wurde das Doppelkonzert daraus. New Century und das »Odessa Classics«-Festival von Alexey Botvinov haben es gemeinsam in Auftrag gegeben. Wir konnten das Stück sogar in Odessa auf die Bühne bringen, noch wenige Monate vor dem Krieg. Es ist ganz außerordentlich, dass wir es haben.

 

Was bedeutet es in der Praxis, ein Werk, das als groß angelegte Komposition seinen Anfang nahm, ohne Dirigent aufzuführen?

Wir wollten es ursprünglich unter Tan Duns Leitung spielen. Das war dann nicht möglich wegen der Reisebeschränkungen in China. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob wir dem Stück ohne Dirigent gerecht werden würden. Vor diesem Hintergrund hat Tan Dun es ein paar Mal überarbeitet, schließlich passte alles. Die so ausgesprochen gut aufeinander abgestimmten Streicher von New Century und die großartigen Perkussionisten beherrschten das Werk perfekt. Ob mit oder ohne Dirigent, es geht auf.

Seit unserer Uraufführung im Mai 2021 habe ich das Stück auch in Istanbul mit Alexey Botvinov gespielt, da stand Tan Dun dann am Pult. Bei unserer ersten Probe scherzte er: »Ihr braucht mich gar nicht. Ihr könnt das alles ohne Weiteres ohne mich!« Aber das kam gar nicht infrage, nicht zuletzt, weil ich neugierig war, wie sich das Stück in dieser Konstellation wandeln würde. 

 

Schaut man das Video der Tan-Dun-Premiere, fällt auf, wie genau die Spieler Sie beobachten, aber auch alle einander lauschen. Da hilft es, dass die Werke auf diesem Album von so klarer Textur und präzisem Rhythmus sind. Gerade bei Jake Heggies Kompositionen ist das wichtig. Wie kamen sie auf ihn, er ist ja eher als Opernkomponist bekannt?

Jake setzte sich zum ersten Mal mit mir in Verbindung, als er an einem Stück saß, auf das er durch »Violins of Hope« gekommen war. Mithilfe dieses Projekts werden Instrumente restauriert, die vor und während des Holocausts jüdischen Musikern gehörten. In einer weltweiten Konzertreihe erklingen sie erneut. Anfang 2020 kam die Ausstellung in die Bay Area von San Francisco und Jake war mit einem Liedzyklus beauftragt, der die Geschichte eines Überlebenden des Holocausts in Liedern und mit der Stimme seiner Geige erzählt.

Er komponierte das Stück für die Mezzosopranistin Sasha Cooke, für mich und für ein Streichquartett, dem auch Musiker des New Century angehörten, und nannte es Intonations: Songs from the Violins of Hope. Es war eine sehr kraftvolle Geschichte, an der ich mich gern beteiligen wollte. Und so war ich bereit, das Stück aufzuführen und einzuspielen. Jake und ich sind seither befreundet, er war zu Gast in einer meiner Hope at Home-Folgen, von denen wir einige während des Lockdowns mit New Century in San Francisco drehten.

Obwohl Jake vielleicht am besten für seine Opern und Vokalmusik bekannt ist, gab ich später in meinem Amt als Präsident des Bonner Beethoven-Hauses ein Werk für Violine und Klavier bei ihm in Auftrag. Seine Fantasy Suite 1803, inspiriert von Beethovens Aufenthalt am Theater an der Wien im Jahr 1803, erinnert an George Bridgetower, den faszinierenden britischen Geiger afro-europäischer Herkunft, dem Beethoven zunächst seine »Kreutzer«-Sonate widmete. Jakes wunderschönes Stück besitzt herrlich straffe melodische Linien und eine tonale, ausdrucksstarke Sprache.

Ich suchte nach einem Werk zur Feier des 30-jährigen Bestehens von New Century und zur Eröffnung unserer Konzerte während einer großen Europatournee im kommenden Sommer 2023. Mir schien Jake, der selbst so etwas wie eine Institution im Musikleben von San Francisco ist, genau der Richtige. Die Kopplung seines Auftragswerks für New Century mit dem Klavierkonzert von Philip Glass gleicht einer Momentaufnahme, so klingt bestimmte amerikanische Musik im 21. Jahrhundert.

 

Konnten Sie schon einen Blick auf Heggies Komposition werfen?

Ja, sie kam kürzlich an und heißt treffenderweise Overture. Dieser Augenblick der Vorfreude, wenn man zum ersten Mal die Partitur eines neuen Werkes in den Händen hält! Früher musste man ein Paket öffnen oder vielleicht einen Umschlag, darin das Manuskript, das zu prüfen war. Heutzutage klickt man auf eine Datei. Aber im Grunde nimmt es sich nichts. Da durchflutet einen etwas, ein Gefühl der Aufregung. Und dann kann man es kaum abwarten, man möchte sofort einsteigen in dieses fröhliche, feierliche Werk und es entdecken. Musik voller Vitalität. Schließlich feiern wir ein Fest, nicht wahr? Das Fest der Musik – für ein neues Jahrhundert …

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