Es gibt Ausnahmekünstler, die schnell in Vergessenheit geraten. Zu Lebzeiten bewundert, verschwinden sie nach ihrem Tod schnell aus dem Gesichtskreis der Nachwelt.
Ein solches Schicksal schien auch Ferenc Fricsay ereilt zu haben. Der charismatische Dirigent aus Österreich-Ungarn war in der Klassikkultur des 20. Jahrhunderts ein Star. Wer mit ihm zusammenarbeiten durfte, konnte sich glücklich schätzen. Der unvergessene Bariton Dietrich Fischer-Dieskau bezeichnete die Begegnung mit dem Dirigenten als ein Geschenk. Ferenc Fricsay, der im Schicksalsjahr 1914 in Budapest geboren wurde, spielte in einer Liga mit Größen wie Wilhelm Furtwängler oder Herbert von Karajan, und der nachfolgenden Generation, etwa Claudio Abbado, bereitete er mit seiner geistreichen und doch niemals verkopften Herangehensweise den Boden. Fricsay trug maßgeblich dazu bei, die spätromantische Interpretationskunst von sentimentalen Schlacken zu befreien. Mit dem witzigen Charme des eleganten k. u. k.-Typs, der in den Proben gern vorsang und sein Orchester mit Scherzen bei Laune hielt, pochte er auf Genauigkeit, auf direkten Gefühlsausdruck.
Dadurch führte er das romantische Erbe, ohne ihm die poetische Inbrunst zu nehmen, in eine neue Zeit. Als Schüler Bartóks, war er zudem offen für moderne Klänge, die sich mit Altem mischten, und so erarbeitete sich der Frühvollendete, der bereits im Alter von 19 Jahren seine Abschlussprüfung an der renommierten Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest absolvierte, ein umfassendes Repertoire, das vom geliebten Mozart über die Romantiker bis hin zu Komponisten des 20. Jahrhunderts reichte.
Fricsays Blütezeit fällt in die vierziger und fünfziger Jahre, und wenn ihn die schwere Krankheit nicht befallen hätte und er nicht bereits im Alter von 48 Jahren gestorben wäre, dann würde sein Stern heute genauso hell leuchten wie der von Georg Solti oder Herbert von Karajan. Doch als er 1963 aus dem Leben schied, da wurde es schnell still um ihn. Zwar flammte nach diversen Schallplatten-Veröffentlichungen immer mal wieder kurze Begeisterung auf. Aber dann war endgültig Ruhe. Fricsay geriet in Vergessenheit.
Bis, ja bis im Vorjahr Teil I von “Ferenc Fricsay – Complete Recordings on Deutsche Grammophon” erschien. Die Edition mit den Orchester-Aufnahmen Ferenc Fricsays löste einen Sturm der Begeisterung aus, und seitdem ist kein Halten mehr. Die Ausgabe mit den Vokalwerken wird in der Fachpresse und beim Publikum bereits heiß ersehnt. Jetzt ist es endlich soweit: “Ferenc Fricsay – Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Vol. 2: Operas, Choral Works” ist erschienen, und die Edition übertrifft alle Erwartungen. Sie porträtiert in den Aufnahmen, Booklet-Essays und Filmmitschnitten einen Dirigenten, der die Opern- und Chormusik regelrecht gelebt hat. Die limitierte Ausgabe umfasst 37 Tonträger, darunter eine CD mit Interviews, in denen Fricsay über die Musik und das Leben spricht. Als Bonus ist dem Paket eine DVD beigefügt, die Fricsay bei Proben und Auftritten zeigt.
Den Löwenanteil der Ausgabe machen die große Messe in c-Moll, das Requiem und die Opern von Mozart aus, darunter “Die Zauberflöte”, “Don Giovanni” und “Die Entführung aus dem Serail” (RIAS Symphonie-Orchester Berlin, Ernst Haefliger u.a.). Moderne Arbeiten seiner akademischen Lehrer, Bartók und Kodály, sind ebenso vertreten wie Glucks wichtige Reformoper “Orpheus und Eurydike”. Klassiker wie Bizets “Carmen” oder Beethovens “Fidelio” dürfen natürlich auch nicht fehlen, und mit der “Fledermaus” von Johann Strauss II. ist auch eine bedeutende Operette am Start.
Wagners Musikdrama “Der Fliegender Holländer”, das “Requiem” von Verdi sowie eine Sammlung von Arien Gounods, Rossinis, Giordanos u.a. sind in dieser Gestalt, mit Sängergrößen wie Fischer-Dieskau, Josef Metternich, Annelies Kupper oder Maria Stader, absolute Höhepunkte der vokalen Interpretationskunst. Exzeptionell ist zudem das Booklet der Ausgabe. Es umfasst 124 Seiten, enthält seltene Fotografien, einen ansprechenden Essay aus der Feder von Gottfried Kraus sowie einen persönlich gefärbten Bericht von Dietrich Fischer-Dieskau, der den außerordentlichen Eindruck beschreibt, den Fricsay bei ihm hinterließ. Summa summarum entsteht so das Porträt eines Ausnahmekünstlers, der wahrlich reif ist, wiederentdeckt zu werden.