Ferenc Fricsay ließ sich nicht beirren: “Ich gehe eine Partitur auf ihre schwächste Stelle hin an und gestalte das Werk im Ganzen aus dieser Einsicht und Erkenntnis heraus”, meinte der österreichische Dirigent ungarischer Herkunft und schuf auf diese Weise legendäre Interpretationen bekannter Werke. Selbst Antonin Dvoraks Sinfonie Nr.9 e-moll op 95 “Aus der neuen Welt” bekam dadurch eine ungewohnte Dimension innerer Stärke, emotionaler Kraft.
Es gibt eine inzwischen vergriffene Aufnahme, die während der Proben zu Dvoraks Sinfonie Nr.9 entstanden ist. Es ist ein eindrucksvolles Dokument, denn Ferenc Fricsay war ein nimmermüder Klangarbeiter, der sich nur nach ausführlichen Debatten und umfangreichen Vorbereitungen mit seinen Orchestern an die Öffentlichkeit wagte. Er war darüber hinaus fasziniert von den Möglichkeiten der Schallplatte, die ihm die Rekapitulation großer musikalischer Augenblicke ermöglichte. Und so konnte man bei den Probenaufnahmen einen Perfektionisten erleben, der die Berliner Philharmoniker bis in die motivische Feinarbeit hinein minutiös anleitete, ihnen immer wieder Neuanfänge verordnete, bis schließlich aus einem bekannten Notentext ein unmissverständliches Meisterwerk wurde.
Fricsays Hang zur Präzision war gefürchtet, forderte er seinen Musikern doch Höchstleistungen ab. Auf der anderen Seite jedoch kannte man ihn als neugierigen Sinnsucher, der sowohl modernen Komponisten wie Frank Martin und Boris Blacher als auch etablierten Klassikern von Mozart bis Verdi auf der Spur war. Im August 1914 in Budapest als Sohn eines Militärkapellmeisters geboren, hatte er bei Bartók und Kodály gelernt, als Leiter des Sinfonie-Orchesters und der Oper von Szeged seine Lehrjahre hinter sich gebracht und war daraufhin nach 1945 über die Stationen Budapest und Salzburg an der Deutsche Oper Berlin gelandet. Fricsay reiste viel, wurde 1953 auf einer USA-Tournee umjubelt und pendelte bis zu seinem frühen Tod 1963 zwischen Berlin und München. Unter seiner Ägide wurden 1958 das Cuvilliés-Theater und 1961 die Deutsche Oper wiedereröffnet, seine Leitung verhalf sogar dem Sinfonie-Orchester des RIAS Berlin zu internationalem Ansehen. Denn er schaffte es, nicht nur aus den Partituren, sondern auch aus den Menschen das Bestmögliche herauszuholen.
So kommt es, dass sowohl Dvoraks Sinfonie Nr.9 als auch Smetanas sinfonische Dichtung “Die Moldau” und Liszts durch die Nazi-Zeit vorbelastetes Orchesterwerk “Les Préludes” mit Fricsay neue Perspektiven bekamen. Alle drei Werke waren zwar mehr oder weniger als Programmmusik in der Interpretation vorherbestimmt. Der visionäre Dirigent kümmerte sich jedoch nicht um die Vorgaben der Darstellungsnormen, sondern betrachtete die Werke als strukturelle Phänomene, denen man mit analytisch fundierter Intuition ungewohnte Facetten abgewinnen konnte. Dvoraks Sinfonie wurde auf diese Weise zu einer musikalischen Meditation über Themen wie “Sehnsucht” und “Freiheit”. Smetanas Ausriss aus dem Zyklus “Mein Vaterland” entwickelte sich zum Sinnbild linearer Motiverarbeitung und Liszts Heroismus verwandelte sich in dunkles, vieldeutiges Pathos. Was auch immer der einzelne Hörer bei den Aufnahmen empfunden haben mag – Fricsay gelang es jedenfalls, den Werken eine innere Größe abzugewinnen, die über die einengende Programmatik hinaus reichte. Das macht seine Aufnahmen bis heute zu Erlebnissen.