Musik muss, um über das Normalmaß des Ausdrucks hinaus zu gehen, über Quellen verfügen, die sich aus besonderen Ursprüngen speisen, Das kann eine spezielle Affinität des Komponisten oder Interpreten zur Emotionalität sein, in ungewöhnlich differenzierter Wahrnehmung oder auch in Wirkabsichten begründet sein, die einem Werk eine unverwechselbare Richtung geben. Für Johann Sebastian Bach ebenso wie für Sofia Gubaidulina ist eine der wesentlichen Inspirationen die Spiritualität des Menschen, seine Nähe zu Gott. Damit verhelfen sie ihren Klanggestalten zu einer hintergründigen Kraft, die Anne-Sophie Mutter so bewegt, dass sie beschlossen hat, die Weltersteinspielung des zeitgenössischen “In tempus praesens” mit zwei Konzerten der barocken Ära zu verknüpfen.
Dieser Album ist das Resultat eines verschlungenen Entstehungsprozesses, der allerdings für die Geigerin Anne-Sophie Mutter eine klare Teleologie hatte: “Ich wusste, dass Paul Sacher in den 1980er Jahren für mich ein Werk bei der Komponistin in Auftrag gegeben hatte und konnte sozusagen geduldig seitdem auf ‘mein’ Werk warten. Was aber nicht heißt, dass ich versäumt hätte, Sofia Gubaidulinas Schaffen sehr aufmerksam zu verfolgen. Persönlich kennen gelernt habe ich sie erst vor der ersten Orchesterprobe in Berlin, als ich ihr das Werk ‘In tempus praesens’ vorgespielt habe – ein sehr bewegender Moment für mich. Sie ist sicher eine der faszinierendsten Komponistenpersönlichkeiten, weil sie in jedem Ton so viel Tiefe der Empfindung offenbart. Sie lebt tatsächlich, um zu komponieren, und sie komponiert nicht, um zu leben”. Uraufgeführt wurde das rund halbstündige Violinkonzert dann im August 2007 beim Lucerne Festival von Anne-Sophie Mutter und den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Es wurde für alle Seiten ein nachhaltiges Erlebnis, das bis in die späteren Aufnahmen weiterwirkt. “Ich übertreibe nicht”, meint die Geigerin, “wenn ich es als das bislang größte Erlebnis bezeichne, das mir einer modern Partitur schenkte. Es steckt eine hohe emotionale Dichte in dem Stück”.
Und Sofia Gubaidulina gibt das Kompliment zurück an die Interpretin: “Eine wunderbare Interpretation. Ich war hingewissen, wie Anne-Sophie Mutter mein Stück gespielt hat, nicht zuletzt weil es eine komplizierte musikalische Textur besitzt. Schon bei meiner ersten Begegnung mit ihr beeindruckte mich die Präzision, mit der sie mein Konzert aufführte. Ihre Genauigkeit in Bezug auf den musikalischen Text ist beeindruckend – und durchaus nicht selbstverständlich. Anne-Sophie Mutter hat ein tiefes Verständnis der musikalischen Form und Bedeutung. Alles, was in der Partitur steckt, gibt sie äußerst durchdacht und einfühlsam wieder. Solche interpretatorische Feinheit bewundere ich: die intensive lyrische Spielweise, die hervorragend farbvolle Palette der Klänge, sehr differenzierte Klangfarben und außerdem das Formgefühl und die perfekte Phrasierung”.
Da war es klar, dass auch nur sie in Frage kam, als es darum ging, ‘In tempus praesens’ auch aufzunehmen. Für die Arbeit im vergangenen Februar in den Londoner Air Studios standen Komponistin und Interpretin das London Symphony Orchester mit dem erfahrenen Valery Gergiev am Pult zur Seite, der zu den wichtigsten Koryphäen im Hinblick auf die Spiritualität einer im weiten Sinne russischen Klangmentalität zählt. So bekommt das Meisterwerk der tartarischen Komponistin, deren übriges Schaffen bereits durch wegweisende Aufnahmen im Rahmen der ECM New Series dokumentiert ist, eine in jeder Hinsicht perfekte Klanggestalt, die darüber hinaus durch die Kombination mit zwei bereits im Jahr zuvor im Hamburg mit den Trondheim Solists entstandene Mitschnitte der Violinkonzerte BWV 1041 und BWV 1042 von Johann Sebastian Bach mit einer weiteren Dimension verknüpft wird. Denn auf diese Weise wird in besonderem Maße deutlich, wie sehr die Musik der zeitgenössischen Komponistin über die Gegenwart hinausreicht: “Es gibt eine tiefe spirituelle Beziehung zwischen Gubaidulina und Bach”, kommentiert Anne Sophie-Mutter ihre Wahl. “Auch schöpft sie – ganz ähnlich wie Bach – aus dem Glauben an Gott viel Kraft und letztlich auch eine ganz besondere Tonsprache”. Eine beeindruckende, bewegende Kombination.