Giovanni Guidi ist gegenwärtig einer der kreativsten Pianisten Europas. Inspirationen aus dem zeitgenössischen Jazz und freien Spiel verbindet er mit einem ganz eigenen, zutiefst lyrischen Ansatz. Obwohl Guidi den Großteil seines Materials selbst komponiert, hat er auch ein offenes Ohr für Stücke, die er sich mit seiner Gruppe aneignen kann. Das neue Album “Avec Le Temps” beginnt beispielsweise mit einer außergewöhnlichen Interpretation des von dem monegassischen Dichter, Komponisten und Chansonnier Léo Ferré (1916–1993) stammenden Titelstücks. Das sehnsuchtsvolle Lied, das von Liebe und Verlust handelt, ist ein Klassiker des französischen Chanson-Repertoires, dessen Melodie und Atmosphäre Guidi und sein Bassist Thomas Morgan hier neue Details abgewinnen.
“Ich weiß nicht, ob es andere Musiker gibt, die sich mit jeder Note so sehr innerhalb der Musik bewegen, die all das, was in jedem Moment passiert, so gut erfassen”, merkte Guidi kürzlich über Morgan an. Die konzentrierte Beseeltheit seines Bassspiels mag Hörer an Charlie Hadens Glanzzeiten erinnern. Was daran liegt, dass auch Thomas Morgan kein im Hintergrund agierender Begleiter ist, sondern die Musik selbst spielt. Verstärkt wird das tiefe Gefühl durch Schlagzeuger João Lobo, der dem Stück mit kreativ freiem Spiel auf Snare und Becken frische Farbe und Textur verleiht. Sowohl das Titelstück als auch die Schlussnummer “Tomasz”, die Guidi dem im letzten Jahr verstorbenen Trompeter Tomasz Stanko gewidmet hat, führen Giovannis Vorstellung von der Kunst des Trios auf die nächste Stufe und knüpfen an die beiden mit Thomas Moragan und João Lobo eingespielten Trio-Alben “City Of Broken Dreams” (2013) und “This Is The Day” (2015) an, die von der Kritik mit Lob überschüttet wurden.
Auf “Avec Le Temps” bricht Guidi indes auch in neue Gefilde auf, indem er seine Gruppe in sechs Stücken durch den Saxophonisten Francesco Bearzatti und den Gitarristen Roberto Cecchetto zum Quintett erweitert. Ursprünglich tourte das Ensemble in dieser Besetzung unter dem Namen Giovanni Guidi Inferno. Und obwohl es durchaus die Fähigkeit besitzt, einen Konzertsaal in einen Hexenkessel zu verwandeln, geht das Quintett, wenn es erforderlich ist, auch weitaus differenzierter zur Sache. Bearzatti und Cecchetto, die beide auch eigene Bands unterhalten, sind auffallend originelle und einfallsreiche Musiker.
Bearzatti ist einer der herausragenden Saxophonisten seiner Generation in Italien. Obwohl er fest in der Tradition verankert ist – er studierte unter anderem bei George Coleman -, drängt er auch in Bereiche der reinen Klangforschung und ist konzeptionell aufgeschlossen; auf seinen eigenen Alben zollte er z.B. schon Malcolm X und Woody Guthrie Tribut. In letzter Zeit traten Bearzatti und Giovanni Guidi auch als Duo auf.
Wie Guidi selbst, hat Gitarrist Roberto Cecchetto häufig mit Enrico Rava zusammengespielt. Acht Jahre lang war Cecchetto ein Kernmitglied von Ravas Band Electric Five. Unter eigenem Namen machte er Aufnahmen mit Guidi und Bearzatti. Außerdem arbeitete er mit sehr vielen namhaften Musikern wie Gianluigi Trovesi, Lee Konitz, Kenny Wheeler, Roswell Rudd und Stefano Bollani.
Thomas Morgans einfühlsame Zusammenarbeit mit Tomasz Stanko, David Virelles, Masabumi Kikuchi, Craig Taborn, Jakob Bro, Bill Frisell und etlichen anderen ist vielfach gelobt worden. In Guidis Ensemble harmoniert er hervorragend mit dem Schlagzeuger João Lobo, der sich – wie Morgan – stets als Begleiter auszeichnet, der genau zuhört. Das Quintett stellt sich den Herausforderungen unterschiedlichster Materialien, meistert ein bluesiges Stück wie “15th Of August” ebenso souverän wie die gemeinsame Kreation “No Taxi”, die an einige Themen von Ornette Coleman erinnert, den liebevollen Lullaby “Ti Stimo” oder die freifließende Ballade “Caino”, die Guidi und Bearzatti zu einigen wunderbaren Soli beflügelt. Insgesamt bietet “Avec Le Temps” eine faszinierende Reise durch wechselndes Terrain.
Der 1985 in Foligno bei Perugia geborene Giovanni Guidi betrat die internationale Bühne einst an der Seite von Enrico Rava. Der Trompeter hatte den jungen Pianisten während eines Sommer-Workshops beim Siena Jazz Festival spielen gehört und war von seiner fokussierten Intensität so beeindruckt, dass er ihn vom Fleck weg in seine Band holte. Als Guidi das erste Mal mit Rava spielte, war er gerade erst 17 Jahre alt. Später begleitete er den Trompeter bei der Aufnahme seiner ECM-Alben “Tribe” (2010) und “Rava On The Dance Floor” (2012). Neben seinen eigenen Einspielungen mit Thomas Morgan und João Lobo, nahm Giovanni Guidi gemeinsam mit Gianluca Petrella, Louis Sclavis und Gerald Cleaver das Album “Ida Lupino” für ECM auf, das von Musica Jazz 2017 zum italienischen Jazzalbum des Jahres gekürt wurde.
Am 26. April wird sich Giovanni Guidi mit seinem “Avec Le Temps”-Quintett im Rahmen des jazzahead!-Festivals beim European Jazz Meeting im Bremer Kulturzentrum Schlachthof präsentieren.