Jeder hat seinen eigenen Weg zur Spiritualität. Plácido Domingo findet ihn über das Gefühl. Daher unterschieden sich seine “Sacred Songs” von anderen Sammlungen geistlicher Lieder. Sie sind beseelt von der Unmittelbarkeit der Empfindung im Angesicht der Universalität der Musik. Mit anderen Worten: Sie treffen mitten ins Herz und packen den Hörer durch die Kraft der Emotion.
Manch einer wird die Nase rümpfen. Denn Plácido Domingo hält sich nicht an die Regeln des klassischen Interpretationskanons. Seine Vorstellung von spiritueller Klangerfahrung geht weit über die Norm der Darstellung hinaus: “Über die Jahre hinweg ist geistliche Musik stets präsent in meinem Leben gewesen, und ich wollte diese CD aufnehmen, weil ich glaube, dass es im Leben aller Menschen Situationen gibt, in denen sie solche Musik hören möchten. Einige Stücke sind bekannt, andere vielleicht eine Neuentdeckung, aber jedes Musikstück, das man hört, ist ein Wunder und damit auch heilig”. Domingo formuliert pathetisch, doch die Aussage ist klar. Der spanische Tenor will die Grenzen der Konvention hinter sich lassen und ausschließlich das machen, was ihm selbst gefällt. Daher sind auch die Arrangements ebenso populär wie ungewöhnlich. Manches folgt den Originalversionen der Kompositionen, anderes wiederum wird durch Arrangeure wie Robert Sadin und Steven Mercurio in eine moderne Form gebracht. Domingo lädt sich außerdem Gäste wie die norwegische Sängerin Sissel und den Gitarristen Paulo Rusticelli vor die Mikrofone, die die Atomsphäre der Arien um individuelle Momente ergänzen.
Denn Domingo will bewegen. Das gelang ihm schon 1968 an der Met und ist seitdem sein Markenzeichen geblieben, ganz gleich ob er Verdi in Verona, Puccini im Covent Garden oder Arien-Hits gemeinsam mit seinen Kollegen Luciano Pavarotti und José Carreras singt. Seine flexible und farbenreiche Stimme ermöglichte es ihm über die vergangenen vier Jahrzehnte hinweg, zu einem der meistbeschäftigten und vielfach ausgezeichneten Musiker seines Fachs zu avancieren. Domingo sang bislang 119 Rollen und nahm über 100 Tonträger auf, davon allein 97 Opern in voller Länge. Er wurde mit neun Grammies ausgezeichnet, wirkte außerdem als Dirigent, Regisseur und engagiert sich sowohl im internationalen Kampf gegen Krankheiten wie Aids als auch im Aufbau junger Talente. So ist er einer der unangefochtenen Stars der klassischen Szene und noch immer ein Impulsgeber für zahlreiche neue Projekte. Ein Künstler, der sein Leben der Musik gewidmet hat, die er möglichst vielen Menschen nahe bringen will und die noch immer der Ursprung seiner Kraft ist: “Ich bin davon überzeugt, dass ich meine Energie direkt aus der Musik beziehe - je mehr ich singe, desto lieber tue ich es; ich kann mich bei meiner Arbeit gar nicht langweilen. Ich gehe davon aus, dass ich noch ein paar Jahre vor mir habe, und hoffe, dass ich immer noch etwas für die Menschen tun kann, die Musik lieben”.